Er sitzt da und betrachtet die Leute.

Sie kommen und gehen. Draussen regnet es und der Raum wird immer wieder vom grellen Licht der Blitze zerrissen, gefolgt von grollendem Donner. Er sitzt da und betrachtet die Leute die den Duft des Regens hineinbringen. Sie schütteln ihre Pelerinen und Schirme aus, hängen sie auf und gehen an ihm vorbei. Kein einziger Blick streift ihn. Er sitzt da und betrachtet die Leute, wie sie ihre Sachen aufhängen. Manchmal streift ihn ein Ärmel oder ein paar Regentropfen berieseln ihn, weil er so nahe bei den Leuten sitzt. Er sitzt da und betrachtet die Leute beim Essen und Trinken, ohne selber auch etwas zu essen oder zu trinken. Die Bedienung hat ihn wohl nicht gesehen. Er sitzt da und betrachtet die Leute beim Schwatzen, ohne selbst ein Wort zu sagen. Er ist ganz allein. Er sitzt da und wartet. So scheint es zumindest. Vielleicht, auf dass das Gewitter aufhört. Vielleicht aber auch darauf, dass ihn jemand sieht. Aber das geschieht nicht. Er sitzt einfach nur da und betrachtet die Leute und dann betrachtet er mich. Er sitzt da und betrachtet mich. Ich sitze da und betrachte ihn, wie sein Spiegelbild.

Ich sitze da und betrachte ihn ohne zu reden, zu essen oder zu trinken. Ich bin alleine. Es scheint als wäre er unsichtbar. Aber das ist er gar nicht. Ich sehe ihn. Ich sitze da und betrachte ihn, wie er aufsteht, zu mir kommt und sich mir gegenüber setzt. Er schaut mir direkt in die Augen und ich merke, dass er unsichtbar ist, dass ich unsichtbar bin. Wir sitzen da und betrachten uns, betrachten die Leute ohne zu essen, trinken oder zu reden. 

Dann sagt er: «Im Leben geht es nicht darum, zu warten bis das Gewitter vorbeizieht, es geht darum, zu lernen, im Regen zu tanzen!». Er nimmt meine Hand und zieht mich nach draussen. Wir gehen durch die Leute. Manchmal streifen wir sie aus Versehen, doch niemand beachtet uns, als wären wir unsichtbar. Wir gehen, verlassen das Lokal und gehen und gehen und gehen immer weiter durch das Feuchte, das Kühle, den Regen. Die Dunkelheit umhüllt uns und Blitze leuchten uns den Weg. Wir gehen immer schneller, drehen uns im Kreis, wir tanzen im Regen zur Musik des Gewitters und lachen und lassen uns die Tropfen ins Gesicht fallen bis wir ganz nass sind und ich fühle mich endlich wieder sichtbar. Wir tanzen und tanzen und tanzen, Haare zerzaust, tanzen im Wind. 

Eine leise Melodie schleicht sich in meine Ohren. «Es hört sich an als würden die Schmetterlinge für mich singen. Was hast du mit mir gemacht?», frage ich ihn. Er lacht und antwortet: «Wer Schmetterlinge lachen hört, der weiss, wie Wolken schmecken.»

Funktion

Autorin

Basler Eule

Das Thema des Schreibwettbewerbs der Basler Eule 2013 hiess “Sichtbar, Unsichtbar“. Mein damaliges Poetry-Slam-Ich schrieb zu diesem Thema einen philosophischen Prosatext und gewann den ersten Rang. Danach wurde der Text noch etliche male auf der Poetry-Slam-Bühne vorgetragen.